Abzweigung

8. Juni 2020

Prinzregentenstraße frühmorgens, Beginn der zweiten Pfingstferien-Woche: Die meisten Kom­­men­tare von Autofahrern kann man nur erah­nen, denn die Fahrzeugfenster sind geschlossen. Sauer sind offensichtlich alle. An­de­re schimpfen bei halb­geöffne­ten Fenstern, einige Bemerkun­gen sind (mehr als) heftig. Fast schon harmlos dagegen: „So ein Sch…“ – „idio­tisch“ – „hirnverbrannt“ und anderes mehr. Verständ­lich!

Ein Autofahrer ruft einem Passanten zu: „Was ist denn passiert?“ Er wusste offensichtlich nicht, wa­rum sich auf einer der Haupteinfallsstraße Münchens, eben der Prinzregentenstraße, der Verkehr stockt, sich an allen Ampeln lange Rückstaus bilden.

Autobahn
Ende der A 94: Stoßstange an Stoßstange stehen die Autos, soweit das Auge reicht. Foto: hgb

Die Stadt hat nämlich eine widersinnige Maßnahme mit eingebautem Chaos umgesetzt. Seit Mon­tag wird ­– so der rote Oberbürgermeister Dieter Reiter – das Verkehrsaufkommen auf der Prinz­re­gen­ten- zwischen Grillparzer- und Ismaninger Straße durch verkürzte Ampelgrünphasen reduziert. Redu­ziert? Rote Welle zwecks besserer Luft?

Allein ein einziger Atemzug belehrt einen eines Besseren.

Warum wählt Reiter eigentlich nicht die Bezeichnung, die klarer zutrifft? Nämlich rot, seine Farbe. Verkürzte Grünphase hört sich halt besser an als längeres Rotlicht

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Tage zuvor die Ankündigung aus der Verwaltung am Marienplatz: „Es ist damit zu rechnen, dass es vor allem zu den Spitzenverkehrszeiten von 7 bis 9 und von 16 bis 18 Uhr zu erheblichen Staus, vor allem auf der A94, kommen wird. Die Stadt bittet alle Pendler, sich darauf vorzubereiten und wenn möglich auf alternative Verkehrsmittel umzusteigen.“ Etwa aufs Fahrrad? Verkehrs­wahn!

Abzweigung
A 94 / Abzweigung zur Prinzregentenstraße – Stau, Stau, Stau. Foto: hgb

Stadteinwärts leuchten auch die Ampeln im Zulauf auf die Prinzregentenstraße seltener Grün. Betroffen sind die Anlagen Prinzregenten- / Töginger Straße, Prinzregenten- / Vogel­weidestraße, Eggenfeldener- / Weltenburger Straße, Einstein- / Truderinger Straße, Leuchten­bergring / Prinz­regentenstraße, Grillparzer- / Prinzregentenstraße und Einstein- / Grillparzerstraße.

Es wurde also das umgesetzt, vor dem Bogenhauser Lokalpolitiker – allen voran Robert Branne­käm­per, CSU-Landtagsabgeordneter und Mitglied des Bezirksausschusses – in der Vergangenheit immer wieder eindringlich gewarnt und abgeraten haben.

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Was sagt die Polizei zu all dem? „Wir werden den Ablauf beobachten“, so Verkehrsexpertin Sandra Stöbich von der Bogenhauser Polizeiinspektion 22. Was ganz einfach ist: Die Beamten brauchen im Gebäude am Prinzregentenplatz nur aus dem Fenster zu schauen und haben so einen idealen Überblick. „Am Montag nach den Ferien (Anm. d. Red: 15. Juni), wenn der Verkehr wesent­lich zunimmt, sind wir vor Ort.“ Also: Schau’ mer mal, was dann los ist. Besser: noch mehr los ist.

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Anlass für die neuen Schaltungen ist laut Stadt die zu hohe Schadstoffbelastung an den Mess­stellen. „Die Maß­nah­me dient dem Gesundheitsschutz und ist verpflichtend umzusetzen. Sie ist Teil des Luftrein­halteplans der Regierung von Oberbayern und soll Fahrverbote vermeiden. Der Stadtrat hat der Maß­nahme am 15. Mai 2019 zugestimmt. Wegen der Corona-Pan­demie wurde die bis Ende April 2020 vorgesehe­ne Umsetzung verschoben.“

Giesecke
Höhe Giesecke + Devrient an der Prinzregentenstraße: geduldiges Warten auf Grün. Foto: hgb

Das vermeintliche Ziel: Die tägliche Verkehrs­menge auf der Prinzregentenstraße um etwa sie­ben Pro­zent – zunächst, denn 15 Prozent als „Verschärfung“ sind abgestrebt! – zu verringern. Um das im Tagesdurchschnitt zu erreichen, hat man eben einfach mal die Grünzeiten der Ampeln gekürzt, „weil außer­halb der Haupt­verkehrszeiten sonst zu wenig Autover­kehr abgehalten würde.“ Wer ist denn auf diese Schnapsidee gekommen? Und weiter: „Um Schleichverkehr in an­de­ren Gebieten zu vermei­den, werden auch die Ampelanlagen in der näheren Umgebung angepasst.“

Alles einfach genial, einfach genial verrückt. Längeres Rotlicht der Ampeln = weniger Abgase? Wie schimpfte doch ein Autofahrer: „Hirnverbrannt!“

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München, Montag, 8. Juni, 6.11 Uhr: Die Stadt erwacht, der Himmel hellt sich auf. Es ist feucht, der Boden aber überwiegend trocken, knapp elf Grad „warm“. Nur wenige Menschen sind bereits unterwegs, darunter ein Frühaufsteher, der mit seinem Hund Gassi geht.

Erster Stopp: Ende der A 94 bei Steinhausen, Stoßstange an Stoßstange stehen da schon die Autos, soweit das Auge reicht, bis weit hinter Daglfing.

Zweiter Stopp: Autobahnausfahrt zum Arabellapark. Nur wenige Fahrzeuglenker biegen ab, fast alle fahren, nein stehen, Richtung stadteinwärts.

 

Richard-Strauss- / Prinzregentenstraße
Ecke Richard-Strauss- / Prinzregentenstraße: der nächste „Stauschub“. Foto: hgb

Dritter Stopp: Autobahnende, Abzweigung zur Prinzregentenstraße – Stau, Stau, Stau.

Vierter Stopp: Auf Höhe der Baustelle von Giesecke + Devrient, Prinzregentenstraße 159, „ruhen­der“ Verkehr, Radfahrer rauschen rechts auf dem Seitensteifen vorbei.

Fünfter Stopp: Ecke Richard-Strauss- / Prinzregentenstraße, die Ampel zeigt Rot, wesentlich weniger Autos als vor der „Maßnahme“ queren bei Grün die Kreuzung. Schritttempo. Ein sichtlich verärgerter Taxifahrer flucht durchs heruntergelassene Seitenfenster.

Sechster Stopp: Prinzregenten- auf Höhe Wilhelm-Tell-Straße. Grelles Blaulicht der Leuchten auf dem Dach zweier Polizeiwagen spiegelt sich auf der dort noch feuchten Fahrbahn – Unfall mit defti­gem Blechschaden. Auch das noch: Auf Höhe der Grillparzer- ist die Prinzregentenstraße stadtaus­wärts gesperrt. Stadteinwarts Stop-and-Go-Verkehr. Betroffene Blicke vieler Fahrer. Über den Prinzregentenplatz, vor zur Ismaninger Straße und weiter zum Europaplatz – nur gaaaanz langsam geht’s vorwärts, die Luft flirrt. Eine Auswirkung der verlängerten Ampelstopps.

Checkende 8.23 Uhr: Wie wird’s erst am nächsten Montag, Ende der Pfingstferien, werden?

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Die Bauernfängerei der verkürzen Grünphasen verfängt wenigstens nicht alle im Rathaus.

Polizei
Unfall auf der Prinzregenten- auf Höhe Wilhelm-Tell-Straße: Sperre stadtauswärts. Fotos: hgb

Die CSU-Stadtratsfraktion hat prompt reagiert, Manuel Pretzl, Hans Theiss, Fabian Ewald (Berg am Laim) und Jens Luther (Bogen­hausen) fordern per Antrag:

„Das Kreisverwaltungsreferat (KVR) stellt die Auswirkungen der Ände­rungen in den Ampelschaltungen auf der Prinzregentenstraße mit den Zubringerstraßen ehrlich dar. Sollten sich massive Stauungen ergeben, ist durch das KVR sofort gegen zu steuern und die Rot-Grün-Phasenschaltungen zugunsten des besseren Verkehrsflusses unverzüglich zu ändern.“

In der Begründung dazu heißt es: „Der Start der Änderungen ist in den Pfingstferien mit weniger durchschnittlichen Autobelastungen nicht repräsentativ. Massiver werden die Auswirkungen in der normalen Zeit. Mehr Staus bedeuten auch höhere Schadstoffausstoße und damit wieder eine Ver­schlechterung der Luftqualität. Der Verkehr soll fließen und nicht stehen.“