12. Oktober 2018

Denkwürdige Tagung des Untergremiums Planung des Bezirksausschusses zum Thema „Münch­ner Nordosten – Eckdatenbeschluss – Entwurf der Vorlage – Anhörung des Referats für Stadtpla­nung“. Denkwürdig? Etwa 200 Bürger, vornehmlich Bewohner und Grundstücksbesitzer jenseits der S-Bahn zum Flughafen, die um ihren Lebensraum und um ihre Existenz als Landwirte bangen, waren dabei.

Kernbotschaft der Versammlung an die Stadt: Ohne Verlegung der S-Bahn in einen viergleisigen Tunnel – so vom Stadtrat 2008 beschlossen und zwei Mal bestätigt – darf im Nordosten keine Bebauung starten. Auf die Nachfrage von Benno Ziegler, Rechtsanwalt der Bürgerinitiative Heimat­boden „Gibt es eine Bebauung ohne Verlegung der S-Bahn in einen Tunnel“ gab’s von Steffen Kercher, Leitender Baudirektor im Planungsreferat, eine verblüffende Antwort: „Das weiß ich doch heute noch nicht!“ Ein Sturm der Entrüstung gepaart mit höhnischem Gelächter quittierte diese Aussage. Der Eckdatenbeschluss soll übrigens Anfang 2019 im Stadtrat erfolgen.

Radikale Gegensätze prallten hart wie selten zuvor aufeinander. Verärgert, aufgebracht und teils wütend wurden vielfach lautstark Standpunkte zum „stadtplanerischen Irrsinn“, der beabsichtigen Städtebaulichen Entwicklungsmaßnahme (SEM) auf dem 600 Hektar großen Areal abseits von Daglfing, Englschalking und Johanneskirchen geäußert.

Nach mehr als dreistündiger Debatte – besser: Wortschlacht – einigten sich die Lokalpolitiker, keine Beschlussempfehlung für die Tagung des Kommunalparlaments am Dienstag, 13. November, 19.30 Uhr, Saal des Gehörlosenzentrums an der Lohengrinstraße 11, auszusprechen. Vielmehr soll das Vollgremium die Stellungnahme zur Stadtvorlage und mehr als ein Dutzend von drei Parteien eingebrachten Anträgen direkt beurteilen. Erwartbar bei dieser Sitzung: erneut viele Besucher und die geballte (Wort-)Wut von Betroffenen.

Die Vorlage des Entwurfs zum Eckdatenbeschluss für die von der Stadt beabsichtigte Bebauung im Münchner Nordosten auf einem 600 Hektar großen Areal jenseits der S-Bahnstrecke zum Flughafen lehnten Bewohner und Grundstücksbesitzer im Planungsgremium des Bezirksausschusses vehement ab. Sie fürchten um ihren Lebensraum und viele Landwirte überdies um ihre Existenz. Foto: hgb

Selbst Robert Brannekämper, Chef des Planungsgremiums, Vize-Vorsitzender des Bezirksaus­schusses und CSU-Landtagsabgeordneter, war vom Besucherandrang total überrascht, kommen doch sonst kaum mehr als eine Handvoll Besucher zu den Besprechungen des Unterausschusses. Brannekämper betonte: „Es war immer klar, dass vor einer Bebauung die Tieferlegung der S-Bahn erfolgen muss. Irgendwelche Billiglösungen kommen nicht in Frage!“

Aus Sicht der Stadt erklärten neben Kercher seine Mitarbeiterinnen Ruth Büchele und Lena Sterzer Ansätze, Gedanken und Vorgaben für einen offenen Architekten-Ideenwettbewerb. Büchele stellte dem Wohnquartier Prinz-Eugen-Park (kurz PEP; 30 Hektar, künftig rund 4000 Bewohner) die SEM (600 Hektar, davon 150 Hektar im Besitz der Stadt) mit Wohnraum „für 15 000 bis 30 000 Men­schen“ gegenüber.

Allein die Zahl 30 000 wollte kaum einer der Anwesenden abnehmen. Denn in (Platz-) Relation PEP zu SEM müsste man, so eine Bürgerin, „mit bis zu 80 000 Einwohnern rechnen.“

Die Frau war von mindestens 30 000 W o h n u n g e n mal 2,3 Bewohner pro Einheit ausgegangen. Dass es wohl bei 30 000 neuen Mitbürgern kaum bleiben dürfte, dafür lieferte die Baurätin selbst Belege: „Die Ansätze für Infrastruktureinrichtungen bei 30 000 Einwohnern sind bis zu 40 Kitas, sechs bis acht Grund- und eine Realschule, zwei bis drei Gymnasien sowie eine Berufs- und eine Fachoberschule.“ – „Waaaahnsinn“ stöhnte ob dieser noch nie gehörten Angaben laut ein junger Mann.

Auch Verkehrsfachfrau Sterzer verblüffte: „In einem ersten Schritt wird die U4 bis Englschalking verlängert, im Schritt zwei bis Riem / Messe (Ergänzung von Kercher: „Die U-Bahn ist dazuge­kommen…). Auch Tram- und Buslinien sind möglich. Das alles um den Druck von den Straßen zu nehmen, damit die Menschen auch möglichst schnell zur Autobahn fahren können.“ Überraschte und entgeisterte Mienen im Saal, Sekundenbruchteile betroffene Ruhe, dann brach ein Sturm los. „Verar… können wir uns selber, es geht doch jetzt schon nichts mehr“, rief ein Mann. Brannekämper mahnte ihn und andere: „Bitte zügeln Sie ihre Emotionen.“ Und Experte Brannekämper zur U-Bahn nach Riem: „Die kostet rund drei Milliarden Euro …“

Eine Dame erklärte unter Beifall „es wird so getan, dass alles schon geplant und klar ist.“ Eine andere Frau machte klar, „wir wollen so wohnen wie es ist, die Stadt will ja kein individuelles Bauen hier, dann gibt’s Betonklötze, ein Ghetto entsteht.“ Kercher gab zu bedenken: „Eine Planung entwic­kelt sich über 20, 30, 40 Jahre, die Verwaltung hat die Daseinsfürsorge angesichts des Zuzugs und des Münchner Wachstums.“ Ein Bürger erklärte, „es kollabiert alles rund herum, das Bauen muss irgend wann ein Ende haben“, ein anderer ergänzte „ich zweifle an der Ernsthaftigkeit und der Qualität dieser Planungsbehörde.“

Brannekämper: „Ohne Verlegung der Bahn in einen Tunnel müssen sämtliche Pläne eingestampft werden. Die Tieferlegung ist Sache der Stadt, der viergleisige Streckenausbau Sache der Bahn.“ Dazu ein Anwohner: „Die Tieferlegung wird nie stattfinden, sie ist im laufenden Betrieb überhaupt nicht möglich.“

Wird’s ein Stuttgart 21 oder gar mehr? Kippen die Kosten das Projekt? „2014 sollte alles 980 Millio­nen Euro kosten, jetzt sind’s 2,6 Milliarden Euro, und 2038, wenn alles fertig sein soll, dürften’s wohl sieben Milliarden Euro sein“, hatte ein Mann berechnet. Dazu Sterzer: „Der Tunnel ist eine Bundes­maßnahme. Wir gehen fest davon aus, dass der Tunnel kommt.“

CSU-Fraktionssprecher Xaver Finkenzeller zum Komplex: „Das alles ist doch wahnwitzig. Das Planungsreferat hat jegliches Vertrauen verspielt. Der Eckdatenbeschluss kostet Millionen, die Vorlagen einstampfen, die Arbeiten sofort einstellen.“