20. Mai 2021

SEM: „Wollen das Kriegsbeil begraben!“

Bebauung im Nordosten, die Städtebauliche Entwicklungsmaßnahme (SEM), auf dem 600 Hektar großen Areal entlang der Bahntrasse von Daglfing, Englschalking und Johanneskirchen: Nach fast 13 Jahren – am 23. Juli 2008 erfolgte der Grundsatzbeschluss – haben die Macher aus dem Planungsreferat offensichtlich endlich kapiert, dass man – so Michael Hardi, Leiter Stadtplanung – „die Entwicklung nur gemeinsam mit den Grundstücksbesitzern be- und vorantreiben“ kann, dass man „sehr intensiv mit den Eigentümern und den Landwirten sprechen, sie ins Boot holen, sie in die Planung integrieren muss, dass man alles >Enkel tauglich< machen muss.“

All das versicherte Hardi und brachte zudem eine „Städtische Gesellschaft, um es gemeinsam zu schaffen“ ins Spiel bei einer zweieinhalbstündigen Online-Info-Runde. Diese fand trotz der vom Bezirksausschuss geforderten und beschlossenen „Absage im angedachten Format und zuvor verlangtem Fachgespräch über die Planungsvorlage mit der Möglichkeit Rückfragen zu stellen“ mit mehr als 300 Teilnehmern und weit mehr als 500 Fragen im Chat statt. Indes, so skeptisch Stadtrat Jörg Hoffmann, Goethe zitierend: „Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube.“

Stadtplaner Hardi, ein wenig poetisch:

[alert-announce]„Es ist mir eine große Ehre, ein Projekt von unglaublicher Dimension, ein gigantisch großes Vorhaben, vorstellen zu dürfen. Es ist ein Startschuss in eine neue Ära. Es wird nicht nur ein Stadtteil, es sind acht Viertel geplant. Wir brauchen eine intensive Informations- und Beteiligungskultur (Anm. d. Red: gemäß einem Schaubild zum „Start mit Ombudsstelle, Gutachten, Projektbeirat“; unter „Dialog“ stehen die Stichwörter Grundstückseigentümer, Landwirtschaft, Verbände, Vereine, Gruppen“).

 

Und weiter: „Wir brauchen jetzt die Politik, brauchen Planungssicherheit um weiter zu kommen. Was passiert mit der Bahntrasse?“[/alert-announce]

Bei Letzterem ist man sich allseits einig und wie vom Stadtrat längst beschlossen: die Verlegung in einen Tunnel ist unabdingbar.

So stellt sich das Planungsreferat die Struktur des Nordostens entlang der Bahntrasse zum Flughafen vor – mit acht Vierteln (von A bis H), mit U-Bahn sowie einer Straßenbahnlinie quer durch den geplanten Stadtteil. Screenshot: hgb

Zum Hintergrund: Von den besagten 600 Hektar sind 450 Hektar in Privatbesitz (350 Flurstücke, 525 Eigentümer), der Stadt und dem Freistaat Bayern gehören 150 Hektar (250 Flurstücke). Der Siegerentwurf eines Architektenwettbewerbs, besser Entwürfe, da es ja Varianten für 10 000, 20 000 und 30 000 Einwohner (plus 10 00 Arbeitsplätze) gibt, hat laut Hardi „eine große Qualität bezüglich der Freiräume und großes Potenzial, den Hüllgraben zu nutzen“.

Gleichwohl machte CSU-Stadträtin und Rechtsanwältin Heike Kainz deutlich: „Je dichter der Wohnbau desto weniger Platz für die Landwirtschaft.“ Und: „Zuerst müssen Personennahverkehr, Bahntunnel und U-Bahnanschluss geklärt sein, sonst funktioniert’s nicht.“

Wann die erste Bebauung erfolgen kann, ist laut Stadtbaurätin Elisabeth Merk „völlig offen. Ich kann in keine Glaskugel schauen.“ Verfolgte man aufmerksam die Online-Runde mit zwölf kleinen Bildschirmrechtecken für die Teilnehmer, fiel auf, dass Merk oft auf ihre Schreibtischplatte starrte. Aktenstudium? Sie betonte eingangs: „Wir brauchen auch Präsenzveranstaltungen. Ziel ist es, die Pläne weiter zu entwickeln, damit sich der Stadtrat im Oktober damit befassen und die nächsten Schritte entscheiden kann.“

Darstellung einer Möglichkeit im Herzen des geplanten Stadtteils: Wege und Wohnungen direkt am Badesee (mit bereits groß gewachsenen Bäumen). Unten rechts: Stadtplaner Michael Hardi. Screenshot: hgb

Der Nordosten „soll ein attraktives Stadtviertel“ werden. Auszüge der Beschreibung:

[alert-announce]„Geschäfte, Restaurants und Cafés in einem lebendigen Zentrum, gemütliche Treffpunkte im Grünen und ein Badesee. Kein zweites Haidhausen, Schwabing oder Neuperlach, sondern ein ganz eigenes Quartier mit belebten Straßen, ausgedehnten Grünflächen und moderner, Familien freundlicher Architektur. Mit Spielplätzen, Kindertagesstätten, Schulen, Kulturzentrum und Jugendtreffs. Mit Läden direkt vor der Tür und guter Anbindung an die Innenstadt. Der neue Nordosten, der erst noch einen Namen bekommen muss, wird gleichzeitig urban und grün geplant. Und er soll, das ist neu und in dieser Dimension einzigartig, klimaneutral werden.“

 

Und weiter: „Es gibt ehrgeizige Planungsziele – ökologisch, viel Platz für Radfahrer und Fußgänger, generationengerecht, familienfreundlich, lebendig, bunt. Das Referat will ein soziales Nutzungs- und Versorgungskonzept erarbeiten. Besonders wichtig sind bezahlbare Mieten. Hierbei wird auch genossenschaftliches Wohnen eine wichtige Rolle spielen. Eine „Stadt der kurzen Wege“ mit einer guten Mischung aus Wohnen und Arbeiten. Es soll eine kompakte Bebauung entstehen, im Stadtteilzentrum mit der höchsten Dichte sind maximal vier bis neun Geschosse geplant.“ [/alert-announce]

Liest sich wie der Text in einem Immobilienprospekt. Der letzte Satz lässt aufhorchen, kann nicht anders interpretiert werden: Das Referat geht eindeutig von der Variante 30 000 Einwohner und 10 000 Arbeitsplätze aus!

Bezirksausschuss-Vorsitzender Florian Ring (CSU) erklärte: „Es gilt Vertrauen zu schaffen mit den Bürgern. Das geht nur, wenn das Planungsreferat mit offenen Karrten spielt. Nur Transparenz hilft. Erst braucht es den Bahntunnel. Es gilt dann alles langsam zu entwickeln, um alle mitzunehmen zu können. Die Drohungen >abschaffen<, sonst brennt das Stadtviertel“.

Dazu Hardi: „Wir wollen ein Stück weit von der SEM, von den Schwertern wegkommen, ein Stück weit den bisherigen Kurs korrigieren, wollen das >Kriegsbeil begraben<, wollen Konsens mit den Landwirten.“ Und: „Die Forderung des Bezirksausschusses, einmal im Quartal den Stand der Dinge bei einer Tagung zu erläutern – das ist ein Leichtes.“

Ralf Huber, Präsident des Bayerischen Bauernverbands, sagte: „Ich bin schockiert, wie bisher alles abgelaufen ist. Man muss Flächen sparen, nicht alles zubetonieren, man muss den Boden mehr wertschätzen.“ Und Münchens Kreisbäuerin Sonja Dirl fügte an: „Landwirtschaft ist unser Leben, da sind wir dahoam.“ Und sie fragte, „Warum wird dieser eine Satz zur Enteignung eigentlich nicht gelöscht?“

Hinweis: Die im Chat gestellten Fragen werden laut Moderatorin Claudia Neeser online eingestellt und beantwortet unter www.muenchen.de/nordosten