Keck? Unverschämt? Kurzsichtig? Wie soll man diese Entscheidung der Stadträte von Grün / Rosa Liste, Rot / Volt und Die Linke / Die Partei (ansonsten) bezeichnen? Sie haben nämlich jetzt die größtmögliche Variante für die Städtebauliche Entwicklungsmaßnahme (SEM) im Nordosten von Bogenhausen beschlossen. Es sollen rund 10 600 Wohnungen für 30 000 Menschen und zudem 10 000 Arbeitsplätze – vor allem für die Versorgung der Anwohner – entstehen.

Die SEM, das ist das mehr als 600 Hektar große Areal entlang der Flughafen-S-Bahnlinie, entlang von Daglfing, Englschalking und Johanneskirchen, eingerahmt von den Grenzen zu den Landkreis-München-Gemeinden Unterföhring und Aschheim sowie dem Lebermoosweg (ehemalige Güter­gleis-Trasse) und der Riemer Straße.

Seit nun mehr 14 Jahren – 2008 hat der Stadtrat einen Beschluss für vorbereitende Untersuchun­gen gefasst – läuft ein Verfahren, das kontinuierlich von einseitig, nämlich von der Stadt, verursach­ter Konfusion zeugt. Ist die am 30. März im Planungsgremium gefällte Entscheidung nun endgültig?

Demnächst muss noch die Vollversammlung im Rathaus abstimmen. Kaum anzunehmen, dass sich die Mehrheitsverhältnisse ändern. Gleichwohl: Eine von zwei Kernfragen (neben der Verlegung des Bahnverkehrs in einen Tunnel), nämlich die Grundstücksfrage, ist nach wie vor – eben nach 14 Jah­ren – ungeklärt. Irgendwann in 2023 (!) soll das Referat eine Vorlage zum Wert der Areale prä­sentieren – eine Basis für die Kaufverhandlungen mit den Eigentümern. Fraglich, ob es dann endlich zu den verlangten Verhandlungen auf „Augenhöhe“ – Originaltenor der Planer – mit den vie­len Landwirten kommt, die teils seit mehreren Generationen die dortigen Böden bewirtschaften. Und dies auch in Zukunft machen wollen.

Referatsjurist Jonas Kopperger Mitte Dezember beim „Digitalen Bürgerdialog zum Münchner Os­ten“ zum Umgang mit den Grundstückseigentümern: „Die Stadt wird auf sie zugehen, wird mit ihnen Gespräche führen und die Pläne erläutern. Wir hoffen, dass es ab 2023 / 24 konkrete Ver­einbarungen gibt. Wer nicht verkaufen will – dann prüft die Stadt, ob das Grundstück benötigt wird. Wir sind optimistisch, dass wir zu Lösungen kommen werden.“

Zur Klarstellung: Der aktuelle Beschluss der Stadtvertreter im Planungsausschuss wurde gegen die Stimmen von CSU, Freie Wähler, FDP, Bayernpartei, ÖDP und München Liste getroffen. Die Varianten 20 000 Menschen (rund 7100 Wohnungen plus etwa 6000 Arbeitsplätze) und 10 000 Menschen (3600 Wohnungen plus etwa 3000 Arbeitsplätze) wurden erst gar nicht mehr erörtert.

Zwar plädierte bei der Erörterung CSU-Vertreter Fabian Ewald (Berg am Laim) nachdrücklich für maximal 15 000 Bewohner und lehnte für seine Fraktion erneut das Instrument SEM, Merkmal ein­gefrorene Bodenpreise, für die Maßnahme ab. Denn verkaufsunwillige Grundbesitzer können damit letztendlich enteignet werden. Die Variante 30 000 Menschen sei überdimensioniert, Land­wirtschaft wäre dann nicht mehr und Pferdesport nur mehr eingeschränkt möglich.

Bebauung im Nordosten: See, Wege, Wiesen, Hecken und Bäume, die erst mal 20 Jahre wachsen müssen, um die abgebildete Größe zu erreichen – all das kaschiert die Hochhäuser, die im Ansatz im Hintergrund zu erkennen sind.     Visualisierung: Rheinflügel Severin / bbz Landschaftsarchitekten

Warum die Bezeichnungen keck, unverschämt und kurzsichtig zum Beschluss?

Fakt I ist: gemäß Angaben der Stadt bestehenbesagte 600 Hektar aus 600 Flurstücken. In Pri­vatbesitz befinden sich 450 Hektar (350 Flurstücke), die sich unter 525 Eigentümern auftei­len. Der Stadt gehören also gerade mal 150 Hektar (250 Flurstücke einschließlich Straßengrund­stücken). Für die Umsetzung der Pläne auf 75 Prozent der Grundstücke fehlt also schlicht und einfach die Grundlage. Hallo Herr SPD-Oberbürgermeister Dieter Reiter, was soll das?

Fakt II ist: die Ackerflächen sind Bauerwartungsland! Josef Schmid, ehemals zweiter Bürger­meister Münchens und Berichterstatter im Herbst über die Ergebnisse der SEM-Petition (von der Bürgerinitiative Heimatboden) und der Behandlung im Landtag, bei einer Klärungsrunde mit Robert Brannekämper, CSU-Landtagsabgeordneter für Bogenhausen:

„Im Landtag wurde mit einer breiten Mehrheit von CSU, Freien Wählern und FDP gegen die Stim­men der SPD der Petition positiv zugestimmt. Die Ackerflächen sind somit Bauerwartungs­land. Es gelten damit die Baulandpreise. Alles andere wäre Enteignung.“ Die Stadt aber ignoriert das Ergebnis der Petition.

Bauerwartungs- versus Ackerland – es geht ums Geld, um viel Geld. Wie viel soll, besser muss, die Stadt den Bauern und Eigentümern der Grundstücke bezahlen, deren Flächen sie für das große Wohnungsbauprojekt benötigt? Beim Preis komme es, so Brannekämper, darauf an, was gebaut wird. Das reiche bis zu 1200 Euro pro Quadratmeter bei gefördertem Wohnungsbau mit Mietwohnungen. Fürs Ackerland gebe es indes nur 30 bis 35 Euro pro Quadratmeter.

Letzteres wollten und wollen die Grundeigentümer aber nicht akzeptieren. Falls notwendig wolle man eine Klage beim Bundesverfassungsgericht einreichen. Der Landtagsabgeordnete stellte klar: „Auch die Finanzbehörden gehen von Bauland aus, denn die Besitzer mussten ihre Grundstücke entsprechend versteuern.“ Für Bauerwartungsland spricht eine Angabe von Reiter vor knapp zwei Jahren bei einem Interview – er hatte 300 Euro pro Quadratmeter in Aussicht gestellt.

Grundlage für die weitere Planung ist gemäß Beschluss des Planungsausschusses der Entwurf (erster Preis) des Architekturbüros Rheinflügel Severin (Düsseldorf) mit bbz Landschaftsarchitekten (Berlin) aus dem städtebaulichen Wettbewerb. Das Konzept sieht vor, dass von dem 600-Hektar-Areal mehr als 300 Hektar überplant werden für Bauten, Grün- und Freiflächen, Verkehrswege sowie See. Knapp 300 Hektar sollen weiterhin für Landwirtschaft, als ökologische Ausgleichsfläche und für den Pferdesport zur Verfügung stehen.

Der Entwurf für die SEM des Büros Rheinflügel Severin für die Variante mit 20 000 Bewohner (etwa 7100 Wohnungen). Realisiert werden soll die Variante mit 30 000 Bewohnern (etwa 10 600 Wohnungen). Eine Visualisierung dazu gibt es nicht … Wie die wohl aussehen würde?    Plan: Rheinflügel Severin

Der neue Stadtteil soll „klimaneutral, ökologisch, generationengerecht, familienfreundlich, le­bendig, bunt, und sozial werden, soll viel Platz für Radfahrer und Fußgänger“ bieten. Nun denn.Michael Bacherl, Architekt im Referat, zum Zeitplan. 2026 ist der Beginn der Bauleitplanung vorgesehen; erfahrungsgemäß dauert es circa fünf Jahre bis der Bebauungsplan steht. Ab 2030 könnten die ersten Baumaßnahmen erfolgen, ab 2035 wären dann die ersten Einzüge möglich.

Weitere Pubkte des Entscheids: „Die tatsächlich für die Reitanlage genutzten Flächen einschließ­lich des alten Baumbestands und der ökologisch hochwertigen Flächen sollen als Sport- und Frei­flächen erhalten und weiterentwickelt werden. Der Freistaat soll sich bis Sommer 2022 zu den Absichten im Gebiet äußern.

Im Verkehrsgutachten soll untersucht werden, wie eine Südost-Anbindung an die A94 für den Auto­verkehr über den Hüllgraben und die Flächen der Olympia-Reitanlage möglichst vermieden und wie der Durchgangsverkehr vom historischen Dorfkern von Daglfing, Englschalking, Johanneskirchen und der Zahnbrechersiedlung ferngehalten werden kann.

Eine erschließende Führung der Tram durch die neue Bebauung auf dem Gelände der heutigen Trabrennbahn (abseits von Burgauer- und Rennbahnstraße) ist zu prüfen. Die neue Brücke über die Gleisanlagen an der Riemer Straße muss Fahrrad- und Tram-kompatibel konzipiert und gebaut werden. Für das Eckgrundstück Riemer – / Rennbahnstraße wird ein Logistikstandort mit Quartiers­garage und Mobilitätsstation geprüft.“

Und : Der viergleisige Ausbau der Bahntrasse Daglfing – Johanneskirchen ist nur in Tunnella­ge möglich. Der Stadtrat fordert die Barrierefreiheit der Stationen Daglfing, Englschalking und Jo­hanneskirchen während der Bauzeit auf Kosten des Bundes. Nach den bisherigen Planungen der Deutschen Bahn AG (DB) sollen diese drei Stationen während der Bauphase weiterhin nicht barrie­refrei sein. Nach den derzeitigen Vorgaben gilt nur das Gebot, den Status Quo nicht zu verschlech­tern. Die drei Stationen gelten aktuell als nicht barrierefrei, so dass der Bund die Barrierefreiheit während der Bauphase nicht übernimmt. Dieser Umstand ist für die Stadt aufgrund der langen Bau­zeit nicht nachvollziehbar.“