Die Auseinandersetzung zwischen Grundstückseigentümernund Anwohnern einerseits und ande­rerseits der Stadt, zuvorderst mit Oberbürgermeister Dieter Reiter, um die Städtebauliche Entwic­klungsmaßnahme (SEM) Nordost verschärft sich zusehends. Kontinuierlich erreicht der Konflikt die nächste Eskalationsstufe. Jüngster Anlass: Am 9. November hat der Stadtrat mit den Stimmen der grün-roten Mehrheit ein (zusätzlich zu bereits genehmigten 200 000 Euro) Werbebudget von 700 000 Euro für die SEM beschlossen. CSU-Vertreter Fabian Ewald im Rathaus: „Das ist nur Geld, um den Bürgern die SEM schönzureden.“

Ein Ende des Streits? Dauert er gar noch Jahrzehnte? Nicht absehbar! Die Angst unter den Flä­chenbesitzern, überwiegend Landwirte, hält weiter unvermindert an, ja verstärkt sich. Sie fürchten immer mehr vor um ihre Existenz.

Landwirt Johann Oberfranz, organisiert und engagiert in der Bürgerinitiative Heimatboden, ist sichtlich verzweifelt, vom jahrelangen zähen Ringen gezeichnet, befürchtet in einer Gesprächsrun­de: „Die Stadt will uns zur Aufgabe zwingen, die Stadt (Anm. d. Red.: sie veranstaltete hier Fahrrad­touren) will den Münchnern zeigen, wie toll das Projekt ist. Je länger alles dauert, desto mehr Be­triebe geben auf. Das ist die Strategie der Stadt. Wir werden ständig erpresst, wir haben einfach Angst, dass die 700 000 Euro gegen uns eingesetzt werden, dass wir gemobbt werden.“

Hintergrund: Die SEM – vor 15 Jahren vorbereitet, vor zehn Jahren eingeleitet, so den Bodenpreis eingefroren, verkaufsunwillige Grundbesitzer können damit letztendlich enteignet werden – soll auf rund 600 Hektar (ohne Pferdesportanlagen), überwiegend landwirtschaftlich genutztem Areal ent­lang der S8-Trasse zwischen Daglfing, Englschalking und Johanneskirchen nach jetzigen Planun­gen in acht Teilstücken (zuvor war stets die Rede von einer „Planung aus einem Guss“) realisiert werden. Bis zu 30 000 Menschen (rund 10 600 Wohneinheiten) sollen dort einmal leben, weitere bis zu 12 000 sollen dort arbeiten.

Besorgt um die geplante „Monsterbebauung“ im Nordosten (v. li., hinter Modellen): Johann Oberfranz, (Heimatboden), Rechtsanwalt Benno Ziegler, Thomas Eberl (Heimatboden), Markus Bichler (Bündnis NordOst) und CSU-Landtagsabgeordneter Robert Brannekämper.   Foto: hgb

Fakt: Von den besagten 600 Hektar sind 450 Hektar in Privatbesitz (350 Flurstücke, 525 Eigentü­mer), der Stadt und dem Freistaat Bayern gehören rund 150 Hektar (250 Flurstücke). In etwa die Hälfte der Fläche soll Baugrund werden – inklusive Badesee sowie U- und Straßenbahn. Rund 300 Hektar sollen weiterhin für Landwirtschaft, als ökologische Ausgleichsfläche und für den Pferdesport zur Verfügung stehen.

Ablauf: Vor einem Jahr erklärte Michael Bacherl, Architekt im Planungsreferat, beim „Digitalen Bür­gerdialog zum Münchner Osten“: „2026 ist der Beginn der Bauleitplanung vorgesehen; erfahrungs­gemäß dauert es circa fünf Jahre bis der Bebauungsplan steht. Ab 2030 / 31 könnten die ersten Baumaßnahmen erfolgen, ab 2035 wären dann die ersten Einzüge möglich.“ Und zum Punkt >Grundlagenarbeit< sagte er: „Wir schnitzen uns ein Entwicklungsgebiet.“

Grundvoraussetzung: Per Beschluss des Stadtrats, später extra von den Kommunalpolitikern be­stätigt, ist der viergleisige Ausbau der Trasse für Güterzüge und S-Bahn in einem Tunnel ein Muss. Für die Umsetzung jeglicher Planung fehlt also bis dato die Grundlage. Aus Kostengründen will die Deutsche Bahn (DB) eine oberirdische Lösung. Im (zu bezahlendem) Auftrag der Stadt untersucht die DB die Tunnelvariante. Ergebnisse sollen im kommenden Frühjahr präsentiert werden.

Koalitionsvertrag: Der Entscheid des Stadtrats juckt Grün-Rot am Marienplatz aber ganz offen­sichtlich nicht. So heißt es im Koalitionsvertrag („Mit Mut, Visionen und Zuversicht: Ganz München im Blick“) vom April 2020 zur SEM: „… wir wollen das Projekt so schnell wie möglich realisieren, oh­ne eine qualitative Planung und den Dialog mit der Bevölkerung zu vernachlässigen. Die Fertigstel­lung der S8-Trasse sehen wir nicht als Bedingung für die Realisierung der SEM an sich.“

Monsterbebauung: Dazu CSU-Landtagsabgeordneter Robert Brannekämper: „Die Planung lässt jedes Maß vermissen“. Also ein Abzugsbild von Neuperlach. Dazu muss man wissen: Es gibt nur eine Visualisierung des Siegerentwurfs vom Büro Rheinflügel Severin für die Variante mit 20 000 Bewohner (etwa 7100 Wohnungen) mit Klötzen um den geplanten See. Eine Visu für 30 000 Be­wohner? Gibt’s nicht! Warum?

„Das Planungsreferat befürchtet wohl Widerstand, wenn den Menschen die Brutalität der Dichte klar wird. Die Stadt will eine Masse an Wohnungen produzieren – eine von vornherein verkorkste Pla­nung. Wir wollen aber eine kleinteilige Bebauung, die sich in den Bestand einfügt.“ Das Bogenhau­ser Kommunalparlament hat unlängst von der Stadt eine Visualisierung aller Planungen gefordert. „Erfolgt das nicht freiwillig vom Planungsreferat, wird der Bezirksausschuss das zusammen mit Heimatboden machen“, so Brannekämper klipp und klar.

Gebäudedimensionen im Vergleich: Geplante Hochhäuser (27 und 21 Meter hoch) gegenüber einem Einfamilienhaus und einem Bauernhof mit Wirtschaftshalle.   Foto: hgb

Holzmodelle: Wie die Gebäude im Vergleich wirken würden – das machte Markus Bichler von der Bürgerinitiative „Bündnis NordOst“ an einfachen Holzmodellen deutlich: Hochhaus E plus 7 (Grund­fläche circa 40 mal 16 Meter, rund 27 Meter hoch) und Hochhaus E plus 5 (rund 21 Meter hoch) gegenüber einem Einfamilienhaus und einem Bauernhof mit ehemaligem Stall E plus 1 plus Heubo­den. Keller als Hochpaterre (70 Zentimeter über dem Boden). „Ob der Größe und Wucht der Ge­bäude waren Interessierte hochgradig schockiert, kritisierten, dass die Stadt die Planungen vernied­licht, dass man für maximal 10 000 Bewohner bauen sollte,“ so Bichler.

Rechtslage: „Es ist das Konzept der Stadt, Dinge nach außen hin schön zu reden. Wir wundern uns schon, dass bei der Werbekampagne Geld keine Rolle spielt, dass sich der OB hinter der Wer­beagentur versteckt. Es gilt, juristisch zu überprüfen und zu klären, ob die Stadt den Einleitungs­beschluss aufheben muss“, so Heimatboden-Rechtsanwalt Benno Ziegler. Und: „Wir werden das gesamte Projekt nicht verhindern können, wir wollen aber Gespräche mit der Stadt auf Augenhöhe. Das ist eine Chefsache, der OB muss das endlich in die Hand nehmen.“

Der Siegerentwurf für die SEM Nordost des Büros Rheinflügel Severin für die Variante mit 20 000 Bewohnern (entsprechend etwa 7100 Wohnungen). Realisiert werden soll die Variante mit 30 000 Bewohnern (entsprechend etwa 10 600 Wohnungen). Eine Visualisierung dazu gibt es nicht.   Plan: Rheinflügel Severin

Unsicherheit I: „Ich begreife nicht mehr, was da abläuft. Wir werden von der Stadt für blöd ver­kauft. Unsere Gutachten wurden als lächerlich abgetan. Kann ich meinen Kindern raten, den Beruf Landwirt zu erlernen? Klar, es wird gebaut. Aber wir brauchen Planungssicherheit – soll ich auf der Lagerhalle eine Fotovoltaik-Anlage installieren? Diese Fragen sind für essentiell“, so Oberfranz.

Unsicherheit II: „Welchen Grund sollen wir in Zukunft, in zehn, 20 Jahren, bewirtschaften? Wie und wann arbeiten, wenn die Felder nah der Wohnbebauung liegen? Sonntags? Feiertags? Abends? Staub? Lärm? Mist als Dünger?“– Fragen über Fragen, die Thomas Eberl und seine Frau Maria, Gastgeber der Runde, umtreiben. Sie bewirtschafteten in dritter Generation den etwa 90 Hektar großen, auf Öko umgestellten Wiesheu-Hof mit Schafen, Rindern und 1000 Hühnern samt Biogas-Anlage, die Wärme und Strom für bis zu 4000 Haushalte erzeugt. Um diese Anlage musste Eberl für 120 000 Euro eine Mauer bauen lassen. Und: Die grüne Ummantelung der zwei Tanks muss mit weißen Hüllen „überdeckt“ werden. Warum? „Wegen der Absorbierung der Lichteinstrahlung, damit das Gas sich nicht erwärmt.“ Aufwand: 120 000 und 80 000 Euro. Eberl ganz allgemein: „Es geht nicht mehr um Wohnungen, es geht ums Geld. Die Stadt könnte doch auf ihren 150 Hektar bauen.“

Forderung: „Wir brauchen endlich einen runden Tisch vor Ort mit dem Oberbürgermeister und Stadtbaurätin Elisabeth Merk. Man muss mit den Leuten, nicht über die Leute reden“, so Branne­kämper.